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Veranstaltung zum Kriegsende in Neuenkirchen und Umgebung

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Vor 80 Jahren:

Die Amerikaner kommen!

Veranstaltung zum Kriegsende in Neuenkirchen und Umgebung

Das Ende des Zweiten Weltkrieges in Neuenkirchen und Umgebung sorgte für einen mehr als vollbesetzten Saal des Kolpinghauses. Rund 200 Zuhörer waren zu einer Veranstaltung des Heimatvereins Neuenkirchen gekommen, bei der die Geschehnisse vor und während des Einmarsches der amerikanischen Truppen am 1. April 1945 im Mittelpunkt eines eineinhalbstündigen Vortrags und der Berichte von Zeitzeugen standen.

Bevor Michael Hellweg vom Heimatverein ausführlich darauf einging, wie Neuenkirchen in die damaligen Ereignisse der Kriegslage im Frühjahr 1945 einbezogen war, erinnerte er an die Vorgeschichte des Krieges, als die nationalsozialistische Diktatur auch in Neuenkirchen, etwa durch die Verfolgung und Vernichtung der jüdischen Mitbürger – Sinnbild dafür war das Niederbrennen der Synagoge in der Progromnacht des 9./10. November 1938 – ihre Gewaltherrschaft im Innern des Landes errichtete, bevor sie die Gewalt mit dem Auslösen des Zweiten Weltkrieges auch in andere Länder hinaus trug.

Aber auch die einheimische Bevölkerung bekam ab September 1939 den Krieg zu spüren, die Rationierung von Lebensmitteln oder Bekleidung, die Einquartierung von Artillerieeinheiten im Dorf vor dem Westfeldzug im Mai 1940 oder auch die Umstellung heimischer Betriebe auf die Rüstungsproduktion. So mussten in der 1938 der jüdischen Eigentümerfamilie abgenommenen Fa. Kemper (damals Räuchle) statt Bäckereimaschinen Granaten gefertigt werden. Mit zunehmender Kriegsdauer stieg auch die Anzahl der Luftalarme. Auf dem Haus Körkemeier am Kirchplatz war eine Luftschutz-Warnsirene installiert und im Radio konnte man die Warnmeldungen des Luftwaffensenders „Primadonna“ aus Lintel, gegenüber vom damaligen Gasthof Schalück, hören. Auch wenn nur im Außenbereich, vor allem im März 1945, Bomben fielen, erfuhren die Neuenkirchener doch durch die verbliebenen Feuerwehrmänner, was diese bei ihren Einsätzen außerorts, z.B. nach den Angriffen auf Städte in Ostwestfalen oder im Ruhrgebiet erlebt hatten. In der Umgebung wurden vor allem Gütersloh, Bielefeld und kurz vor dem Einmarsch der Amerikaner noch am 27. März 1945 die alte Bischofsstadt Paderborn schwer bombardiert.

Gegen Kriegsende kam es überall tagtäglich auch zu Angriffen von Tieffliegern, auf Eisenbahnzüge, aber auch einzelne zivile Fahrzeuge oder gar Landwirte auf dem Feld. So mussten 19- bis 20jährige Neuenkirchenerinnen, die Anfang 1945 zum Stellungsbau in die Nähe der holländischen Grenze kommandiert waren, Tieffliegerangriffe über sich ergehen lassen und dabei um ihr Leben fürchten. So berichtete Elisabeth Wolframm im 1998 herausgegebenen Buch des Heimatvereins „Zwischen Not und Hoffnung“: „Plötzlich stürzten sich Jagdbomber herunter und eröffneten das Feuer. Wir lagen alle flach am Boden. Die Flugzeuge flogen wieder höher, drehten eine Schleife und stürzten sich erneut herunter. Ich sah schräg nach oben und blickte genau in diese Ungeheuer. Geschrien und gebetet haben wir, doch niemand von unseren Leuten ist getroffen oder verletzt worden.“

Mit dem Näherrücken der Front im Westen kam es im Oktober 1944 wieder zu Einquartierungen. IN der Volksschule wurde eine hochspezialisierte Wehrmachtskompanie untergebracht, die den feindlichen Funkverkehr abhörte. Gleichzeitig erhöhte sich die Zahl der ohnehin schon auf Bauernhöfen und in den örtlichen Fabriken schuftenden Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter im Februar 1945 erheblich, als die deutsche Luftwaffe noch für ihre ersten Düsenjäger einen Flugplatz in Lintel errichten wollte. Nördlich des heutigen Ortskerns sollte dort eine 1.700 Meter lange Start- und Landebahn in west-östlicher Ausrichtung gebaut werden. Viele der Kriegsgefangenen für diese „Handarbeit“ wurden in Neuenkirchen, Druffel und Lintel einquartiert. Das Kriegsende kam der Fertigstellung jedoch zuvor.

Anfang März 1945 planten die hoch überlegenen Amerikaner, Briten und Kanadier den weiteren Vorstoß bis zur Elbe. In zwei Zangenarmen, nördlich am Ruhrgebiet vorbei und südlich durch das Sieger- und Sauerland, wollten sie sich bei Paderborn treffen, um große deutsche Verbände einzukesseln und zu vernichten. Bevor sie jedoch den Rhein überschritten, wollten sie durch eine intensive Luftaufklärung sich (mehr als nur) ein Bild von dem Terrain vor ihnen verschaffen. Mit schnellen, einsitzigen Jagdflugzeugen wie der P-38 Lightning und P-51 Mustang, die von einem Flugplatz südlich von Oxford auf den britischen Inseln starteten, überflogen sie ganz Westeuropa und knipsten tagsüber auch vom heimischen Raum, der auf ihrem geplanten Vormarschweg lag und mit der Köln-Mindener Eisenbahn wie auch der A 2 militärisch bedeutsame Verkehrswege aufwies, Unmengen von Luftbildern aus großer Höhe, aber bester Qualität. Deshalb konnte Michael Hellweg erstmals öffentlich von ihm im US-Nationalarchiv aufgespürte Luftbilder von Neuenkirchen vom 23. März 1945 präsentieren. Auch Luftbilder aus den Nachbarorten, etwa Druffel, Westerwiehe, Lintel oder Gütersloh mit seiner schwer getroffenen Innenstadt oder dem Flugplatz bezog er ein.

Danach ging er auf die Ereignisse rund um den Einmarsch der Amerikaner ein. Noch in der Nacht vom 31. März auf den 1. April hatten die restlichen deutschen Truppen in wahren Elendszügen Neuenkirchen durchquert. Der damalige Volksschullehrer Pohl berichtete seinerzeit u.a.: „Elend zeigte die Landstraße, Lange Trupps aller Nationalitäten, die sich zur Zeit auf deutschem Boden befanden, besonders Franzosen und Russen, zogen heute wie schon Tage vorher als Kriegsgefangene müde und zerschlagen unter deutscher Bewachung nach Osten. Sie hatten im Westen in Fabriken und Bergwerken gearbeitet und sollten dem Zugriff der Amerikaner vorenthalten werden. Dazwischen fuhren deutsche Evakuierte ihre letzte Habe auf Fahrrädern, Kinderwagen, Handwagen oder trugen es in Koffern, Rucksäcken und Bündeln. Glücklichere saßen auf vollbepackten Pferdekarren. Um das Bild zu vervollständigen, schleppten sich blutjunge deutsche Soldaten, Kinder fast, mit dem Panzerschreck, dem sogenannten Ofenrohr, auf der Schulter vorwärts. Hier wurde dem Gefangenen oder Evakurierten, dort dem Landser ein Stück Brot, ein Ei oder ein Schluck Kaffee gereicht. Zum Dank ein leises Kopfnicken, und dann schleppten sich die müden Gestalten weiter ins Ungewisse.“

Der Vernunft des örtlichen Volkssturms, dem „letzten Aufgebot“ aus alten und jungen Männern, war es zu verdanken, dass die befohlenen Panzersperren, z.B. zwischen den Häusern Spieker und Gasthof Becker in der Ortsmitte, nicht geschlossen wurden und die Amerikaner so ungehindert ins Dorf rollten konnten. Andernfalls hätte Neuenkirchen wohl – wie verteidigte Orte andernorts – mit schwerem Artilleriebeschuss oder Bombardements rechnen müssen.

Während die Amerikaner, im Norden über Beckum, Diestedde und Wadersloh kommend, bei Lippstadt am Wasserturm mit den von Süden nahenden US-Panzereinheiten den sog. Ruhrkessel schlossen, rollten die übrigen Teile der 2. US-Panzerdivision unter Generalmajor Isaac D. White von Beckum aus in östlicher Richtung vor. Über Stromberg, Wiedenbrück und Rietberg fahrend, erreichten sie am frühen Morgen des 1. April 1945, dem Ostersonntag, Neuenkirchen. Wie üblich waren viele Neuenkirchener in die Frühmesse gegangen, als mittendrin große Aufregung entstand. Der damalige Pfarrer Mues hielt damals in der Pfarrchronik fest: „Eben war die Auferstehungsfeier zu Ende, und die Frühmesse begann, als die ersten amerikanischen Truppen Rietberg verließen und sich Neuenkirchen näherten. Da wurde die weiße Fahne rausgehängt. (…) Die Frühmesse nahm währenddessen ihren Fortgang. Während der Predigt kam der Kirchenschweizer kopflos die Kanzel herauf: „Sie schießen! Sie schießen!“ „Lassen Sie ruhig schießen! Hängen Sie die weiße Fahne aus und stören sie mich nicht bei der Predigt!“ war die Antwort. Und die Predigt ging weiter. Als die Frühmesse zu Ende war, zogen die amerikanischen Truppen schon die Straße nach Kaunitz hinauf.“

Hellweg berichtete in seinem Vortrag weiter, dass bis zum Nachmittag bereits 2.000 amerikanische Fahrzeuge, Panzer, Panzerspähwagen, Trucks und Jeeps das Dorf durchquert hätten. Ganz ungeschoren kam die Bevölkerung nicht davon. Amerikanische Soldaten drangen in die Häuser ein, durchwühlten den Hausrat und nahmen Schmuck und Uhren mit. Die den vorderen Panzereinheiten folgende 30. US-Infanteriedivision, deren Regimenter hier eine kurze „Verschnaufpause“ einlegten und deren Soldaten überwiegend aus den US-Südstaaten North und South Carolina, Georgia und Tennesee stammten, richtete sogar ihr Divisionshauptquartier ein; die dazugehörigen leichten Verbindungsflugzeuge landeten und starteten in den Wiesen westlich vom Dorf. In den Folgetagen beschlagnahmten amerikanische Soldaten viele Häuser im Ort. Amerikaner und Deutsche drangen auch in die Lager der Dieckhoffschen Brennerei ein und „soffen ganz fürchterlich“, so Zeitzeugen.

Erheiterung kam bei den Zuschauern im Kolpinghaus aber auf, als Hellweg aus der „Geschichte des 119. US-Infanterieregiments“ aus dem Jahr 1946 zitierte. Darin wurde Neuenkirchen (!) als eine „historische, 2.000 Jahre alte Stadt“ beschrieben, in deren Nähe „die römischen Legionen unter Varus durch eine Ansammlung germanischer Stämme nahezu vernichtet“ wurden. US-Fake-News vor 80 Jahren!

Zum Abschluss resümierte Hellweg, dass Neuenkirchen bei Kriegsende großes Glück gehabt habe, zum einen, weil die geschlagenen deutschen Truppen sich an die Hänge des Teutoburger Waldes zurückgezogen hätten, um dort eine Verteidigungslinie aufzubauen, und weil Neuenkirchener Bürger sich den Befehlen zum Widerstand widersetzt hätten. Er betonte auch, dass – bei allem Kopfschütteln über die derzeitige Politik aus Amerika – nicht vergessen werden dürfe, was die amerikanischen Familien damals geopfert hätten, als sie ihre Söhne, Brüder und Väter über den Atlantik geschickt hätten, um Deutschland zu besiegen und damit ganz Europa von Diktatur, Terror und Krieg zu befreien. Das Publikum dankte ihm für seinen fesselnden Vortrag mit langem Applaus.

Im Anschluss daran kamen noch Zeitzeugen aus dem Publikum zu Wort. So berichtete die aus Neuenkirchen stammende, damals an der Sandfeldstraße wohnende Christel Wöstemeyer – ihr Mann Hugo war nach dem Krieg der Gründer des Jugendaustauschwerks und Droste-Hauses in Verl –, wie sich beim Einmarsch der Amerikaner deutsche Soldaten in der Nachbarschaft auf dem Dachboden versteckt hätten. Mit Gewehr im Anschlag hätten die Amerikaner die Häuser durchsucht, aber nichts gefunden. In einem Koffer der Familie hätte sie dann schwarze Bekleidung gefunden, die sie zunächst für Uniformmaterial der SS – diese trug schwarze Uniformen – gehalten, dann aber – zur beiderseitigen Erleichterung – kleine Blümchen auf ihnen gefunden hätten. Zwei Tage hätten Amerikaner ihr Elternhaus besetzt, aber außer den verzehrten Lebensmittelvorräten nichts kaputt gemacht oder gestohlen.

Christel Becker, die Vorsitzende des Heimatvereins, trug anschließend noch weitere Aufzeichnungen aus Interviews vor, die sie mit alten Neuenkirchenern geführt hatten. Einer von ihnen, der vor wenigen Tagen verstorbene Hans Helmig, hatte ihr berichtet, dass die Deutschen damals viel Munition weggeworfen hätten, der sich der Kinder aus Abenteuerlust bemächtigt hätten. Schmunzeln löste seine Erinnerung aus, wie er als kleiner Junge vom Jahrgang 1937 nach dem Einmarsch der Amerikaner am Ostersonntag zunächst auf die Süßigkeiten verzichtet hatte, die sie gern an die Kinder verteilten. Nachdem er jedoch gemerkt hatte, dass diese – so seine kindliche Einschätzung zunächst – nicht vergiftet waren, griff er am nächsten Tag umso lieber zu. Für Neuenkirchen war der Krieg zuende.